Benno Wagner

 

Franz Kafka. Der Unversicherbare

(Exposé)

Wie kein anderes Werk der literarischen Moderne schließen die Erzählungen, Romanfragmente und Notizen des Prager Schriftstellers und Unfallversicherungsjuristen Franz Kafka die neuartigen Verknüpfungen und Überlagerungen an, die sich im frühen 20. Jahrhundert zwischen Schrift, Leben, Technik und Kunst herausbilden. In eine Welt, in der bürokratisch und technisch implementierte Schreibverfahren einerseits die Optimierung des Lebens und andererseits sein massenhaftes Opfer gleichermaßen programmieren, entwickelt Kafka in unablässigen Experimenten eine Schreibweise, die darauf abzielt, einerseits das normalisierte Leben des Einzelnen und der Familie entsichern und zu intensivieren, und andererseits die Risiken zu protokollieren und zu minimieren, denen die großen Kollektive (Ethnien, Nationen) ausgesetzt sind. Aus dieser doppelten Resistenz gegen die soziale Berechnung und Disziplinierung des Lebens, und gegen die mörderischen Versicherungen der Weltkriegspropaganda, ergibt sich das entscheidende Merkmal dieses einzigartigen Schreibverfahrens: seine Unversicherbarkeit im sozialen wie im rhetorischen Sinne.
Anders als das programmatische gefährliche Leben seines großen Gegenspielers und Versicherungsverächters Nietzsche verzichtet das unversicherbare Schreiben Kafkas dabei auf die Verheißung eines „eigenen Bodens, eines eigenen Landes“. Es erprobt stattdessen eine prekäre Kunst der Landvermessung, die sich in den blinden Flecken der sanitären (Biopolitik) wie auch der salutären (Ethnopolitik, Kriegspropaganda) Diskurse der mitteleuropäischen Gesellschaft einrichtet.

Franz Kafka. Der Unversicherbare ist als systematisch und werkgenetisch gegliederte Trilogie konzipiert.
Band 1: Kafkas Protokolle. Eine Poetik des Unfalls liefert eine poetologisch ausgerichtete Diskursanalyse zeichnet an den Arbeiten des frühen und mittleren Werks nach, wie sich der Ereignistyp des modernen Unfalls und seiner Grenz-Fälle (Überfall, Selbstmord) zunehmend vom Motiv zum poetischen Programm des kafkaschen Schreibens entwickelt (Exposé s.u.).
Band 2: Kafkas Akten: Literatur als Kulturversicherung liefert eine kulturpoetisch ausgerichtete Archiv-Analyse des mittleren Werks. Im Zentrum stehen diesmal die chinesischen Erzählungen, die als erste politisch-territoriale Erzählwelt Kafkas im Horizont des Ersten Weltkriegs und des finis austriae gelesen werden. Kafkas Schreibweise wird hier in Analogie zum Aktenverkehr als dynamische Bündelung unterschiedlicher kultureller Konflikt- bzw. Risikofälle im intertextuellen Feld seiner als Aktenbündel fungierenden Bild-Chiffren gelesen. Das semiotische Potential der Literatur wird genau dort eingesetzt, wo die statistische Potential der Sozialversicherung endet: bei der Bündelung singulärer, nicht miteinander verrechenbarer Konflikte zwischen Ethnien und Nationen.
Band 3: Kafkas Kunst: Die Musik der Schrift richtet sich auf das Spätwerk, um Projekt einer gleichermaßen intertextuell vernetzten (dialogischen) wie unlesbaren Kunst als ästhetische, ethische und praktische Herausforderung zu rekonstruieren.


Bd. 1. Kafkas Protokolle: Eine Poetik des Unfalls

Bereits Kafkas erste Schreibversuche stehen im Zeichen der Gefahren und Unfallrisiken sozialer und kultureller Experimente. Einen wichtigen Gegenhalt bietet dabei jenes Programm des gefährlichen Lebens im Gebirge, das Nietzsche als einzigen Ausweg aus der Katastrophe des Abendlandes erkennt. So lässt Kafka in Beschreibung eines Kampfes seinen ersten Protagonisten als Wiedergänger Zarathustras auftreten, der den Prager Laurenziberg durch ein imaginäres Gebirge verdoppelt und sich dann daran macht, „etwas [zu] erfahren über die Gefährlichkeit dieses scheinbar sichern Landes“ jenseits der „großen Stadt“ und ihren versicherten „Heerdenmenschen“. Kafkas 1907 einsetzende Berufsarbeit als Unfallversicherungsjurist, so lautet eine zentrale These dieses Bandes, ist damit nicht bloß eine weitere ‚Einflussquelle‘ oder Motivsammlung für seine literarische Produktion, sondern sie liefert ihm eine zugleich epistemologische und poetologische toolbox zur Beantwortung seiner von Beginn an virulenten Frage nach den Chancen und Risiken sowohl des sozialversicherten Lebens als auch der Projekte seiner Überschreitung und Transformation.

In den Jahren ab 1910 erzeugt die diskursive Ordnung des Industrieunfalls nicht nur die oszillierende Lichtordnung der Kafkaschen Erzählwelten, sondern sie definiert auch das narrative Verkettungsschema, das diese Welten in Bewegung setzt. (1) Den Ausgangs-, oder besser: Auslösungspunkt der jeweiligen Handlung bildet jeweils ein minimaler Fehler, eine Abweichung unterhalb der Schuld-Schwelle, die, ähnlich wie im Maschinenbetrieb der der industriellen Produktion, dann unverhältnismäßige Folgen nach sich zieht: das Überhören des Weckers durch den Handlungsreisenden Samsa, der später als Ungeziefer erwacht (Die Verwandlung); das Fehlläuten der Nachtglocke, das den Landarzt auf eine abwegige Reise bringt (Ein Landarzt); die Ablenkung des Jägers Gracchus durch eine Gemse, die zum tödlichen Absturz führt, und die seines Bootsmannes, die ihn den Weg ins Jenseits verfehlen lässt (Der Jäger Gracchus); (2) Als zweites Handlungsstadium folgt der Versuch der Verunglückten, ihren Schaden gegenüber einer Institution darzustellen, ihr individuelles Schicksal – zwecks Entschädigung – in die Ordnung der Institution einzuführen; ein Versuch, der regelmäßig an der Nicht-Darstellbarkeit des Schadens aufgrund der unterschiedlichen Diskursordnungen – mithin am Widerstreit zwischen Person und Institution – scheitert: Samsas Gespräch durch die geschlossene Tür mit dem Prokuristen seiner Firma; der Unfall-Bericht des Jägers, den der Bürgermeister von Riva aus seinem Kompetenzbereich weist; der Bericht des Affen vor der Akademie, der sich hinsichtlich seiner Gefangennahme „auf fremde Berichte“ stützen muss und schließlich das Urteil der Akademie vorsorglich kategorisch ablehnt. (3) Hieraus resultiert regelmäßig das Kreisen der Protagonisten um jenen bereits von J. Canguilhem beschriebenen ätiologischen Moment, der ein beschädigtes, defizitäres ‚Jetzt‘ von einem gesunden, erfüllten ‚Damals‘ trennt. (4) Begleitet wird all dies durch ein beständiges Streben der Protagonisten nach Wiederherstellung eines Normalzustandes, aus dessen unvermeidlichem Scheitern schließlich eine Linie para-normalen Lebens abzweigt (der Varieté-Affe unter den Menschen; Samsa als Parasit der Familie; das Seemannsleben des Jägers Gracchus, Odradeks Leben unter der Treppe), an deren Ende der Tod des Protagonisten, die Erschöpfung der handlungstreibenden Energie oder einfach der Abbruch des Erzähltextes steht.
Der erste Band bietet eine zugleich genetische und systematische Entfaltung hier skizzierten Schreibprojekts, mithin eine nicht autor- sondern verfahrensbezogene Werkbiographie.